05.11.2022
Bürger-Stiftung Stormarn fördert Projekt der Südstormarner Vereinigung für Sozialarbeit auch 2023. Pandemie und aktuelle Krisen belasten Kinder und Jugendliche.
Von Petra Sonntag
Bad Oldesloe/Großhansdorf Der Moment, als Michael Biesel am S-Bahnhof Aumühle mit dem Gedanken spielt, vor die einfahrende Bahn zu springen, wird ihm immer in Erinnerung bleiben. Genauso wie sein einziger Tag in der geschlossenen Psychiatrieabteilung einer Klinik. „Das waren absolute Tiefpunkte meines Lebens, in denen mich Depression und Sucht fest im Griff hatten“, sagt Biesel. Seine Worte machen Eindruck: Die Klasse 10a der Großhansdorfer Friedrich-Junge-Gemeinschaftsschule hängt an seinen Lippen, als er von der Zeit, die sechs Jahre zurückliegt, berichtet. Der 59-Jährige ist an diesem Vormittag gemeinsam mit Sozialpädagogin Larissa Wende von der Südstormarner Vereinigung für Sozialarbeit (SVS) beim 10. Jahrgang zu Gast, um psychischen Erkrankungen und Süchten das Stigma zu nehmen. „Verrückt! Na und?“ heißt das Projekt, das sich an Schülerinnen und Schüler ab der 8. Klasse und Berufsschulen richtet. Die Eheleute Schmöger-Stiftung unter dem Dach der Bürger-Stiftung Stormarn sowie die Sparkassen-Sozialstiftung Stormarn machen Termine wie diesen mit ihrer finanziellen Unterstützung erst möglich. Für das laufende Schuljahr haben beide Stiftungen jeweils 5.000 Euro zur Verfügung gestellt, die Eheleute Schmöger-Stiftung.
Essstörungen, Depressionen und Ängste nehmen weiter zu
Ursula Pepper, Projektverantwortliche der Bürger-Stiftung und Vize-Vorsitzende des Stiftungsbeirats, hat Projekttage wie diesen begleitet und erlebt, wie gut das Angebot bei den Jugendlichen ankommt. „Viele Schulen kennen das Projekt noch nicht, dabei ist der Bedarf an Aufklärung groß“, so Pepper. „Depression ist eine häufig mit großem Leiden verbundene, sogar lebensgefährliche und zugleich unterschätzte Krankheit. Wichtig ist, dass die Depression als Krankheit erkannt und zeitnah behandelt wird, dann ist sie durchaus heilbar.“ Es ist nicht nur die Pubertät als Umbruchsituation, die Heranwachsende verunsichert und belasten kann. Auch die Auswirkungen von Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation und stark gestiegenen Energiekosten setzen Kindern und Jugendlichen zu.
Der aktuelle Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit belegt die Folgen für die Gesundheit allein durch die Pandemie: Essstörungen wie Magersucht und Bulimie, aber auch Adipositas nahmen 2021 in Schleswig-Holstein dramatisch zu, ebenso seelische Störungen wie Depressionen und Ängste. Vor allem Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren leiden mit einer Steigerungsrate von 38 Prozent deutlich häufiger unter Depressionen als vor der Pandemie. Die Rate an Angststörungen ist sogar um mehr als zwei Drittel gestiegen. „Das sind besorgniserregende Zahlen, die deutlich machen, wie wichtig Aufmerksamkeit für das Thema und Hilfsangebote sind“, so Ralph Klingel-Domdey, Vorstandsmitglied der Bürger-Stiftung Stormarn. „Umso wertvoller ist das Engagement der Eheleute Schmöger-Stiftung unter dem Dach unserer Bürger-Stiftung Stormarn. Und ganz besonders der persönliche Einsatz von Ursula Pepper. Wir brauchen als Gesellschaft solche Initiativen, um den akuten Problemen begegnen zu können.“
„Wir haben etliche Schüler, die sich zurückgezogen haben“
Die Auswirkungen der Pandemie sind auch im 10. Jahrgang der Friedrich-Junge-Gemeinschaftsschule deutlich zu spüren. Die achte Klasse hatten die Jugendlichen, die seit fünf Jahren eine Gemeinschaft bilden, überwiegend im Homeschooling verbracht, persönliche Begegnungen wurden zur Seltenheit. Dafür wuchsen persönliche Probleme. Ess- oder Angststörungen, aber auch das Leben mit psychisch erkrankten Eltern sind an diesem Vormittag ein Thema. Michael Biesels Schilderungen seiner Alkoholsucht und schweren Depression haben Hemmungen abgebaut. Klassenlehrerin Bettina Palder ist dankbar für die Auszeit vom Schulalltag: „Das Projekt bietet einen geschützten Raum. Es war schön zu erleben, wie gut die Schülerinnen und Schüler das Angebot aufgenommen haben.“ Die Pandemie habe den Bedarf an Gesprächen, Beratung und Hilfestellung verstärkt. „Wir haben etliche Schüler, die sich zurückgezogen haben“, so Palder. „Der russische Angriff auf die Ukraine, aber auch die Folgen des Klimawandels verunsichern die Kinder und Jugendlichen.“
Psychische Gesundheit ist bedeutsames Thema an Stormarns Schulen
2021 war „Verrückt! Na und?“ zum ersten Mal zu Gast an der Friedrich-Junge-Schule, im Angebot der SVS ist es seit 2019. „In den sechsstündigen Programmen geht es um Süchte, auch mit Blick auf Soziale Medien, Drogen, Alkohol, Schulstress, Mobbing, psychisch kranke Eltern oder andere Belastungen in der Familie, Krankheit, Suizid, aber auch Zukunftssorgen“, sagt Larissa Wende, Projektverantwortliche der SVS. „Die Schülerinnen und Schüler können thematische Schwerpunkte wählen.“ Das Projekt war bereits an 60 Gemeinschaftsschulen und 40 Gymnasien in Schleswig-Holstein im Einsatz. „Wir verzeichnen wieder eine deutlich gestiegene Nachfrage“, so Wende. „Psychische Gesundheit bleibt ein bedeutsames Thema in den Schulen.“ In diesem Jahr hat das Beratungszentrum Südstormarn der SVS 30 Schultage im Kreis Stormarn vollfinanziert – dank Spenden wie die der Stiftungen. Die Schulbesuche werden zwar auch vom Verein „Irrsinnig Menschlich e.V.“ mit 150 Euro pro Tag bezuschusst. Doch das reicht längst nicht, um die Kosten zu decken. Noch fehlt der SVS für das Projekt eine Regelfinanzierung, sie ist auf Spenden angewiesen, um das Angebot für Schulen kostenfrei zu halten. „Es wäre wünschenswert, dass auch die Politik auf Landes- und Bundesebene die Lehrkräfte angesichts steigender Zahlen psychisch belasteter Kinder durch mehr Fachpersonal unterstützt“, sagt Ralph Klingel-Domdey.
Jugendliche lernen Warnsignale zu erkennen und einander zu verstehen
Die Teilnahme der Lehrkraft an dem Projekttag ist verpflichtend. „Es ist wichtig, dass sie die Klasse anders erlebt“, erklärt Wende, die Bettina Palder am Ende des Schultags einen Handlungsleitfaden aushändigt, während die Schüler einen Flyer mit Kontaktdaten nützlicher Anlaufstellen im Kreis erhalten. Die 18 Jungen und Mädchen der 10a haben viel gelernt heute. Sie kennen nun Warnsignale psychischer Krisen, haben Ängste und Vorurteile gegenüber psychischen Krisen und Betroffenen hinterfragt, erfahren, was ihre Seele stärken kann und was es für ein achtsames Miteinander in der Schulgemeinschaft braucht. Aber vor allem haben sie einander vertraut und sich ausgetauscht. „Ich fand den Tag sehr gut“, sagt Robert (16). „Wir haben über Tabuthemen gesprochen, die Leute haben sich geöffnet. Ich weiß jetzt besser, wie ich Menschen ansprechen kann, wenn sie Probleme haben.“ Seinem gleichaltrigen Klassenkameraden Maximilian fiel das Sprechen über Persönliches in der Gruppe sogar leichter als in der Freizeit, wie er selbst sagt: „Und ich habe Neues über andere und über psychische Störungen gelernt. Der Tag verbindet uns als Klasse stärker und hilft zu verstehen, wenn einer so ist, wie er ist.“
Lehrreicher Austausch mit Menschen, die seelische Krisen bereits gemeistert haben
Wie es ist, in einer seelischen Krise zu stecken, welche Folgen das haben kann und welche Wege aus der Krise führen, hat Michael Biesel eindrücklich geschildert. Als persönlicher Experte zähle er zum Herzstück des Projekts, so Wende. „Durch die Lebensgeschichten unserer persönlichen Experten bekommt das komplexe Konstrukt Seelische Gesundheit ein Gesicht und wird nachvollziehbar, gleichzeitig vermitteln sie Lösungswege und Zuversicht.“ Michael Biesel suchte vor rund zwei Jahren wegen seiner Alkoholsucht die Sucht- und Drogenberatung im Beratungszentrum Südstormarn in Reinbek auf, um Hilfe zur Selbsthilfe zu bekommen. Der gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann aus Aumühle war nach einer Sinnkrise und Jobverlust in eine tiefe Depression gerutscht, kämpfte sich nun zurück ins Leben. Als seine Suchttherapeutin ihn fragt, ob er Lust habe, bei „Verrückt! Na und?“ mitzumachen, tut sich für Biesel eine neue Tür auf. „Mein Hauptanliegen ist es, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren. Denn viele Alkoholkranke haben ursächlich ein anderes Problem, die Sucht ist nur ein Symptom“, sagt Biesel, für den sein Einsatz als persönlicher Experte seit einem Jahr sinnstiftend sei. Die Jugendlichen erlebt er dabei oft als sehr interessiert. Sein Tipp für den Umgang mit Problemen ist unmissverständlich: „Je eher ran, desto eher davon. Mir hat es sehr geholfen, die Eigenakzeptanz meiner Krankheit voranzutreiben.“
Seine Arbeit für die SVS sei Teil seines Lebensinhalts geworden, so Biesel, der sich seit August zur Wiedereingliederung als Mini-Jobber bei der gemeinnützigen Osterkuss GmbH in Hamburg um den Vertrieb kümmert. Er hofft, manchem Jugendlichen in seelischer Not mit seiner Geschichte helfen zu können, denn er weiß: „Je jünger, desto besser die Heilungschancen“.
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