18.12.2024
Die Bürger-Stiftung Stormarn unterstützt das Hospiz Lebensweg. Dort sehen die Menschen dem Weihnachtsfest voller Ruhe statt mit Stress entgegen. Für die meisten wird es das letzte sein.
von VERENA KÜNSTNER
Der Herr in Zimmer Sieben wünscht sich nach dem Essen eine Portion Eis mit Sahne, seine Nachbarin würde gern noch einmal ihr Lieblingslied hören und der Gast in Zimmer Zwei bereitet sich auf den Besuch seiner Kinder vor, die ihm für die Festtage seinen Sessel von Zuhause mitbringen. Es sind kleine, aber besondere Wünsche, die im Hospiz Lebensweg geäußert und erfüllt werden. In dem mit Holz verkleideten und von Grün umgebenen Bungalow in der Straße Sandkamp im Bad Oldesloer Westen sind derzeit zwölf Menschen zu Gast, deren Lebensweg bald zu Ende sein wird.
In der Vorweihnachtszeit herrscht eine friedvolle Atmosphäre im Hospiz. Das bedeutet aber nicht, dass es still ist. Gründerin Sabine Tiedtke sagt: „Gerade jetzt ist die lebendigste Zeit bei uns. An jedem Tag im Dezember gibt es eine besondere Aktion, die die Gäste und ihre Angehörigen auf die Feiertage einstimmt.“ Es werden Sterne gebastelt, Waffeln gebacken, Cocktails gemixt. Musikerinnen und Musiker spielen Weihnachts- und Lieblingslieder auf Gitarre, Klavier und Bratsche, Chöre halten Konzerte und die hospizeigenen Alpakas Cremchen, Bernd und Enyo kommen auf einen Besuch in den Zimmern vorbei. „Wer nicht allein sein will, der ist es hier auch nicht“, sagt Sabine Tiedtke, die im Lauf der vergangenen vier Jahre seit Gründung des einzigen stationären Hospizes im Kreis Stormarn viele Menschen beim Sterben begleitet hat. „So, wie jedes Leben unterschiedlich ist, ist auch der Prozess an dessen Ende nie derselbe. Wir respektieren individuelle Bedürfnisse, zwingen niemandem einen bestimmten Tagesrhythmus auf.“ 39 Hauptamtliche und 70 Ehrenamtliche sorgen Tag und Nacht für die Gäste jeden Alters, jeder Religion und Herkunft. Wie lange sie jeweils bleiben, weiß niemand.
„Gerade jetzt ist die lebendigste Zeit bei uns. An jedem Tag im Dezember gibt es eine besondere Aktion, die die Gäste und ihre Angehörigen auf die Feiertage einstimmt.“
Susann Meier ist vor vier Tagen eingezogen. Die Hamburgerin hatte Gleichgewichtsstörungen, kam im September mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus. Dort stellten die Ärzte eine unerwartete Diagnose: Susann hat Krebs. Eine Operation sei nicht mehr sinnvoll, überall im Körper haben sich bereits Metastasen gebildet. Die 68-Jährige ruft sofort ihre Schwester Rosita an. Die lebt seit knapp 30 Jahren in Sydney, Australien. Mit ihr hat sie eigentlich einen gemeinsamen Urlaub geplant, nachdem die beiden im Frühjahr ihre an Demenz erkrankte Mutter an ihren letzten Lebenstagen begleitet hatten. Die Schwestern wollten sich zusammen von der anstrengenden, traurigen und aufwühlenden Zeit erholen. „Als Susann anrief, war das wie ein Weltuntergang“, sagt Rosita Sunna. Die 63-Jährige packt ohne zu Überlegen wieder ihre Koffer, bucht einen Flug nach Hamburg. „Es war völlig klar, dass ich sie mit dieser Nachricht nicht alleine lasse.“
Die Schwestern schwelgen in Erinnerungen: Susann Meier (links) hat Hochsee-Angelreisen organisiert und war selbst eine leidenschaftliche und erfolgreiche Anglerin.
Im November geht es Susann sehr schlecht, doch Dank guter Pflege des Palliativteams der Großhansdorfer Lungenklinik kommt sie wieder zu Kräften. „Sie haben mir geraten, mich nach einem Platz in einem Hospiz umzuschauen“, erzählt die gelernte Arzthelferin, die ihre berufliche Erfüllung im Organisieren und Durchführen von Hochsee-Angelreisen gefunden hat. „Das nimmt einem zunächst jede Hoffnung, denn Hospize verbindet man sofort mit Tod und Trauer.“ Doch Susann und Rosita erleben „ein Wunder“. So nennt Rosita die Aufnahme ins Hospiz Lebensweg. „Eigentlich war kein Zimmer frei, die Warteliste lang. Ich bin trotzdem nach Bad Oldesloe gefahren, um mir zusätzlich zur Internetrecherche ein eigenes Bild zu machen.“ Beim Betreten des Hauses habe sie ein Gefühl des Angekommenseins verspürt. „Das ist der Ort, an dem meine Schwester gut aufgehoben ist“, denkt die gläubige Christin. Und betet. Es vergehen einige Tage. Kurz bevor sie sich schweren Herzens bei einem anderen Hospiz anmelden, klingelt das Telefon. „Als ich die Oldesloer Vorwahl gesehen habe, wusste ich sofort: Es hat geklappt!“, sagt Rosita Sunna, der bei der Erinnerung daran wieder Tränen in die Augen steigen. Nach großer Verzweiflung und vielen Schmerzen fühlt sich Susann das erste Mal seit Wochen wohl. Sie sagt: „Solchen Menschen begegnet man nicht jeden Tag. Ich bin so froh, dass ich hier bin.“
Mit unserem Spendenformular können sie bequem einzelne Stiftungsfonds in unserer Region bedenken.
Corinna Grimm-Habeck arbeitet ehrenamtlich im Hospiz. Sie empfängt Gäste und Besucher, macht Hausführungen und spielt ab und zu Klavier in der sogenannten Dorfmitte, dem Gemeinschaftsraum.
Vielleicht liegt das auch an den wunderbaren Zufällen, die den Schwestern hier widerfahren. Jedem der zwölf Gästezimmer im Hospiz sind Bäume zugeordnet. „Wir haben uns für heimische Arten entschieden“, sagt Gründerin Sabine Tiedtke. Es gibt also das Birken-Zimmer, das Linden-Zimmer und so weiter. Doch Nummer Vier, Susanns Zimmer, fällt aus dem Rahmen. Hierfür hat Kay Gladigau die Einrichtung gespendet und den Namen gewählt. Der Bauingenieur, der mit der unter dem Dach der Bürger-Stiftung Stormarn gegründeten Karl Gladigau-Hospiz-Stiftung von Beginn an großer Unterstützer der Oldesloer Einrichtung ist, wählt „Baobab“. Der Affenbrotbaum wächst in Afrika – und in Australien, der Wahlheimat von Susanns Schwester Rosita. „Der Baobab wird häufig auch Lebensbaum genannt, das fand ich sehr passend“, sagt Kay Gladigau, der mit der Stiftung seinem Großvater Karl gedenkt.
Der Bauingenieur KayGladigau hat unter dem Dach der Bürger-Stiftung Stormarn die Karl Gladigau-Hospiz-Stiftung als Andenken an seinen Großvater Karl gegründet.
Mit dessen Erbe gründet Gladigau 2020 den Stiftungsfonds, um dessen Verwaltung, Anlage und Formalitäten sich die Experten der Dachstiftung kümmern. Die Erträge und Zustiftungen kommen dem Hospiz zugute, das fünf Prozent der Betriebskosten selbst erwirtschaften muss. „Ohne Spenden könnten wir den Gästen nicht das bieten, was ihnen so guttut“, sagt Sabine Tiedtke. Dabei geht es nicht nur um Geld. Corinna Grimm-Habeck beispielsweise spendet jede Woche Zeit. Als Ehrenamtlerin mit Ausbildung zur sogenannten Lebensweg-Begleiterin sitzt sie am Empfang, führt Besucher durchs Haus. „Im vergangenen Jahr habe ich an Heiligabend Klavier gespielt und die Weihnachtsgeschichte vorgelesen“, sagt die ehemalige Bankkauffrau. „Zu erleben, wie nach und nach die Gäste aus ihren Zimmern kamen und sich zu uns gesetzt haben, war das schönste Geschenk.“ Ein halbes Jahr habe sie das „beseelte Gefühl“ weiter in sich getragen. Zwei Bekannte hat sie schon zum Ehrenamt im Hospiz angestiftet.
Das gute Gefühl, etwas aus freien Stücken zu einer positiveren Gemeinschaft beizutragen, treibt wohl jeden der mehr als 360 Menschen an, die sich in den derzeit 43 Stiftungsfonds und sechs Bürgerstiftungen unter der Obhut der Bürger-Stiftung Stormarn unentgeltlich engagieren. „Unser Lohn ist unbezahlbar“, sagt Ehrenamtlerin Grimm-Habeck. Es seien die Gespräche und Begegnungen mit den Hospiz-Gästen und ihren Angehörigen, die sie reicher machen. Und die Möglichkeit, sich mit der Endlichkeit des eigenen Lebens auf eine bewusste und angstfreie Art auseinandersetzen zu können.
Die sogenannten Seelenhäuser stehen symbolisch für jeden Hospiz-Gast. Verstirbt er oder sie, wird das Licht entzündet und ins Gastzimmer gestellt. Die Angehörigen dürfen sich einen Stein mit Inschrift aussuchen, der ihnen in ihrer Trauer hilft.
Im Hospiz ist der Tod kein Tabuthema. Die Hauptrolle spielt er aber auch nicht. „Hier weiß jeder, was Sache ist“, sagt Rosita Sunna, die dank eines Zweitbettes im Baobab-Zimmer Tag und Nacht nah bei ihrer Schwester Susann sein kann. „Es gibt weder lange Krankheitsgeschichten noch oberflächliches Gerede. Niemand muss sich erklären, sondern man kann einfach so sein, wie man ist.“ Susann ergänzt: „Ich fühle mich irgendwie in Sicherheit. Das ist nach der ersten schlimmen Zeit nach der Diagnose ein echter Segen.“ Das letzte gemeinsam verbrachte Weihnachtsfest ist zwanzig Jahre her. Damals haben die Schwestern mit Freunden und Familie in Potsdam gefeiert. In diesem Jahr hat das Fest ein besonderes Motto: „Weihnachten mit Susi“. So hat Rosita die WhatsApp-Gruppe genannt, mit der sie alle Freunde und Bekannten am zweiten Weihnachtsfeiertag ins Hospiz einlädt.
Jeder soll etwas zu essen mitbringen und Zeit mit Susann verbringen können. Die lächelt, als ihre jüngere Schwester das erzählt. Sie wusste bisher nichts von Rositas Plan, der keinen Widerspruch duldet. Susann will auch gar nicht widersprechen. Sie will die Zeit genießen. Und noch etwas wünscht sich die leidenschaftliche Anglerin: Einen Ausflug zum Meer. Auch das möchte ihr das Team vom Hospiz Lebensweg ermöglichen. Es setzt sich dafür mit dem Wünschewagen vom Arbeiter-Samariter-Bund in Verbindung. Er steht für das, was die Mitarbeitenden im Oldesloer Hospiz täglich leben: Das Erfüllen letzter Wünsche.